Der Gewinn des Lebens

Am kühlen Bach, am luft’gen Baum
Träum’ ich nun meines Lebens Traum,
Und mag nicht wissen, ob die Welt,
Wie ich mir träume, sei bestellt;

Denn ach, ist Der wohl mehr beglückt,
Der, dass sie nicht so sei, erblickt?
Ich ging einmal der Weisheit nach
Und hörte, was die Weisheit sprach.

Sie sprach so viel- und mancherlei,
Was einst die Welt gewesen sei
Und jetzt nicht ist und, sehr verirrt,
Wohl nimmer, nimmer werden wird.

Ich grämte mich und ging im Gram,
Als mir der Ruhm entgegen kam.
“Dir,” sprach er, “Sohn, Dir ist beschert,
Zu räumen weg, was Dich, beschwert.”

Ich räumte, wollte vor mich sehn;
Allein die Felsen blieben stehn.
Ermattet, ohne Gram und Zorn,
Sucht’ ich nun Rosen unterm Dorn.

Die Rosen, ach! entfärbten sich,
Und ihre Dornen stachen mich;
Zwei Knöspchen unter allen hier,
Lieb’ und die Freundschaft, blieben mir.

Am kühlen Bach, am luft’gen Baum
Träum’ ich nun meines Lebens Traum.
Die beiden Knöspchen pfleg’ ich mir
Und weihe sie, o Sonne, Dir!

Komm, kühler Bach, erquicke sie!
Komm, süsses Lüftchen, stärke sie!

Johann Gottfried Herder (1744-1803)

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